Alan Watts, ein einflussreicher britischer Philosoph und spiritueller Lehrer, prägte mit dem “Backwards Law” (umgekehrtes Gesetz) eine bedeutende Idee, die auf einem tiefen Paradoxon des menschlichen Lebens basiert. Das Konzept des Backwards Law besagt, dass das Streben nach bestimmten positiven Zuständen – wie Glück, Erfolg oder Liebe – oft das Gegenteil bewirkt und uns von diesen Zielen entfernt. Es ist das paradoxe Gesetz, das besagt, dass je mehr wir etwas erzwingen wollen, desto weniger wahrscheinlich ist es, dass wir es erreichen.
Diese Idee ist tief in den östlichen Philosophien verwurzelt, insbesondere im Taoismus und Zen-Buddhismus, deren Lehren Watts in seiner Arbeit häufig zitierte. In diesem Artikel werfen wir einen detaillierten Blick auf das Backwards Law, seine Bedeutung und wie es sich auf verschiedene Aspekte des modernen Lebens anwenden lässt.
Was ist das Backwards Law?
Das Backwards Law ist ein einfaches, aber tiefgründiges Konzept: Je mehr wir versuchen, bestimmte Ergebnisse zu erzwingen, desto mehr entfernen wir uns von ihnen. Wenn wir uns beispielsweise zwanghaft um Glück bemühen, wird das ständige Streben nach Glück ironischerweise oft zur Quelle von Unzufriedenheit. Je mehr wir uns anstrengen, glücklich zu sein, desto mehr empfinden wir den Mangel an Glück, weil wir unsere aktuellen Erfahrungen ständig mit einem idealisierten Zustand vergleichen.
Alan Watts erklärt das Backwards Law oft anhand der Vorstellung, dass das Leben nicht “erzwungen” werden kann. Stattdessen sollten wir die Dinge fließen lassen und lernen, mit dem natürlichen Rhythmus des Lebens zu gehen, anstatt gegen ihn zu kämpfen. Watts betont, dass dies kein Aufgeben bedeutet, sondern vielmehr eine akzeptierende und offene Haltung gegenüber dem Leben und seinen unvorhersehbaren Ereignissen.
Beispiele für das Backwards Law im Alltag
1. Das Streben nach Glück
Das häufigste Beispiel für das Backwards Law ist das Streben nach Glück. In der modernen Gesellschaft wird oft der Eindruck erweckt, dass wir ständig daran arbeiten sollten, glücklich zu sein – sei es durch die Erreichung materieller Ziele, beruflichen Erfolg oder persönliche Beziehungen. Doch das Streben nach Glück, insbesondere wenn es zur Obsession wird, führt oft zu Unzufriedenheit. Glück kann nicht erzwungen werden; es entsteht vielmehr spontan, wenn wir den Moment akzeptieren, wie er ist.
Quelle: Watts, Alan. The Wisdom of Insecurity. Pantheon Books, 1951.
2. Erfolg und Wohlstand
Viele Menschen glauben, dass harter Arbeit zwangsläufig zu Erfolg und Wohlstand führt. Doch das ständige Streben nach Erfolg kann dazu führen, dass wir den Prozess selbst nicht genießen und uns immer gestresster und ausgebrannter fühlen. Laut dem Backwards Law bewirkt dieser Ansatz oft, dass wir trotz unserer Anstrengungen das Gefühl haben, nie genug zu erreichen. Sobald wir jedoch lernen, den gegenwärtigen Moment zu akzeptieren und den Erfolg nicht zwanghaft zu verfolgen, kann dieser auf natürlichem Wege zu uns kommen.
Quelle: Watts, Alan. The Way of Zen. Pantheon Books, 1957.
3. Liebe und Beziehungen
Ein weiteres Beispiel ist das Streben nach der “perfekten” Beziehung. Je mehr wir uns darauf konzentrieren, die ideale Partnerschaft zu finden oder unseren Partner zu ändern, desto mehr distanzieren wir uns emotional. Beziehungen gedeihen, wenn wir nicht versuchen, sie zu erzwingen, sondern sie in ihrem natürlichen Fluss akzeptieren. Liebe entsteht oft dann, wenn wir sie am wenigsten erwarten und uns nicht verzweifelt nach ihr sehnen.
Quelle: Watts, Alan. The Book: On the Taboo Against Knowing Who You Are. Vintage Books, 1966.
4. Ruhe und Gelassenheit
Ein weiteres Beispiel aus der modernen Welt ist der Versuch, innere Ruhe und Gelassenheit zu finden, etwa durch Meditation oder andere Praktiken. Doch je mehr wir versuchen, uns bewusst zu entspannen, desto schwieriger wird es oft, tatsächlich inneren Frieden zu finden. Die Anstrengung selbst erzeugt Unruhe. Paradoxerweise tritt wahre Ruhe ein, wenn wir den Versuch loslassen, sie aktiv zu erreichen, und stattdessen den Moment akzeptieren.
Quelle: Epstein, Mark. Going to Pieces Without Falling Apart: A Buddhist Perspective on Wholeness. Broadway Books, 1999.
Das Backwards Law und die östliche Philosophie
Alan Watts war tief von den Lehren des Taoismus und des Zen-Buddhismus inspiriert, die beide das Prinzip des Loslassens und des “Nicht-Handelns” (Wu wei) betonen. Im Taoismus bedeutet Wu wei, dass man im Einklang mit dem natürlichen Fluss der Dinge handelt, anstatt gegen ihn zu kämpfen. Der Versuch, das Leben zu kontrollieren, führt laut dieser Philosophie oft zu mehr Problemen, während das Loslassen von Erwartungen und das Akzeptieren des Unbekannten zu innerem Frieden führt.
Im Zen-Buddhismus wird ebenfalls die Idee vertreten, dass das Streben nach Erleuchtung selbst eine Form von Anhaftung ist, die den Geist in Unruhe versetzt. Die Erleuchtung tritt oft erst dann ein, wenn wir den Wunsch nach Erleuchtung loslassen und den gegenwärtigen Moment voll und ganz akzeptieren. Dies steht in direktem Zusammenhang mit dem Backwards Law, das besagt, dass der Zwang, bestimmte Zustände zu erreichen, uns oft weiter von ihnen entfernt.
Quelle: Watts, Alan. The Way of Zen. Pantheon Books, 1957.
Psychologische Forschung und das Backwards Law
Das Backwards Law ist nicht nur ein philosophisches Konzept, sondern findet auch in der modernen Psychologie Unterstützung. Psychologische Studien zeigen, dass das Streben nach Glück oder Erfolg oft zu einem Paradox führt: Je mehr Menschen versuchen, glücklich zu sein, desto unglücklicher werden sie, da sie sich auf das konzentrieren, was sie nicht haben. Diese sogenannte “Hedonic Treadmill” beschreibt den Zustand, in dem wir uns ständig nach etwas Neuem sehnen, ohne jemals langfristige Zufriedenheit zu finden.
Eine Studie von June Gruber und Kollegen zeigte, dass das zwanghafte Streben nach positiven Emotionen sogar negative Auswirkungen haben kann. Menschen, die das Glück übermäßig verfolgen, neigen eher zu Enttäuschungen und fühlen sich häufiger unzufrieden. Dies unterstützt Watts’ These, dass das Loslassen von Erwartungen und das Akzeptieren des Lebens, wie es ist, zu einem erfüllteren und zufriedeneren Leben führen kann.
Quelle: Gruber, June, et al. “A Dark Side of Happiness? How, When, and Why Happiness Is Not Always Good.” Perspectives on Psychological Science, vol. 6, no. 3, 2011, pp. 222-233.
Quellen:
1. Watts, Alan. The Wisdom of Insecurity. Pantheon Books, 1951. 2. Watts, Alan. The Way of Zen. Pantheon Books, 1957. 3. Epstein, Mark. Going to Pieces Without Falling Apart: A Buddhist Perspective on Wholeness. Broadway Books, 1999. 4. Gruber, June, et al. “A Dark Side of Happiness? How, When, and Why Happiness Is Not Always Good.” Perspectives on Psychological Science, vol. 6, no. 3, 2011, pp. 222-233. 5. LaFargue, Michael. The Tao of the Tao Te Ching: A Translation and Commentary. SUNY Press, 1992. 6. Watts, Alan. The Book: On the Taboo Against Knowing Who You Are. Vintage Books, 1966.